Der späte Springsteen
Wenn man Live-Musik liebt und nicht ohne leben kann, ist es schwer, manchmal unerträglich, mitanzusehen, wie die großen Idole älter werden und ihr Karriereende näherrückt. Als John Lennon ermordert wurde war ich zehn und kein besonderer Beatles-Fan. Aber ich erinnere mich an die Betroffenheit meiner Schwester. “Jetzt werden sie niemals wieder zusammen auftreten.” Das liegt über 30 Jahre zurück, aber ich habe es nicht vergessen. Dass ich B.B.King mit 80 Jahren auf der Bühne gesehen habe, ist super, aber man kann das wohl nicht von jedem Musiker erwarten. Um es mit Jackson Browne zu sagen: All good things got to come to an end.
Heute freue ich mich über jede gute Band in meinem Alter oder – besser noch – die jünger ist als ich. Doch Musik, die man seit mehr als 30 Jahren hört, lässt sich nicht ersetzen.
Am 23. September feiert Bruce Springsteen seinen 63. Geburtstag. Darf ich da schon vom “späten Springsteen” sprechen? Ich hoffe nicht. Doch für mich hat sein jüngstes Album Wrecking Ball eine neue Springsteen-Epoche eingeläutet.
Die Trennung von der E-Street-Band Anfang der 1990er war ein Einschnitt in seiner Karriere und vermutlich in seinem Leben. Nicht minder wichtig dürfte seine Entscheidung gewesen sein, Ende der 1990er wieder mit seiner Band auf Tour zu gehen. Neues Material gab es zunächst nicht; ein Best-of-Album mit wenigen neuen Songs, begleitet von einer filmischen Dokumentation der Studio-Sessions. Es folgte eine grandiose Tour. Ich hab das Konzert in Köln gesehen. Es stand dem ebenso grandiosen Live-Mitschnitt aus New York, erschienen auf Doppel-CD in nichts nach.
Die Studioalben der anschließenden Jahre brachten zwar gute Songs, aber nur sehr wenige, die die Jahre überdauern. Den Alben mangelte es am Spirit, die guten Stücke waren isoliert, es fehlte der rote Faden. Eine Ausnahme waren die Seeger Sessions, auf denen aber kein eigenes Material eingespielt wurde, sondern nur Interpretationen von Songs der Folklegende Pete Seeger.
Und nun Wrecking Ball. Das beste Album seit zehn, vielleicht zwanzig Jahren. Was ist passiert? Nun, ich bin kein Springsteen-Biograph. Mich hat es nie interessiert wie das Privatleben der Musiker aussieht. Aber einige sehr persönliche Dinge sind passiert, die nicht privat bleiben konnten. Im Booklet des 2007er Albums Magic findet sich ein Nachruf Springsteens und mit Terry’s Song auf der CD eine musikalische Hommage an seinen langjährigen Freund Terry Magovern. Es folgte der Tod zweier Mitglieder der E-Street-Band. Danny Federici im Jahre 2008. 2011 der größte Schock für die Fangemeinde: Clarence Clemmons stirbt an einen Schlaganfall. The Big Man ist tot. Sein Saxophonspiel hat die Aufnahmen von Springsteen seit den 1980ern geprägt. Die Meldung seines Todes war vielleicht meine „John-Lennon-Nachricht“. Jetzt werden sie niemals wieder zusammen auftreten.
Sind diese Ereignisse der Grund für Springsteens Wut, die einige Kritiker dem neuen Album attestieren? Wut ist ein passender Ausdruck, finde ich. Wenn ich das Titellied höre, spüre ich aber auch Trotz.
I was raised out of steel here in the swamps of Jersey
[…]
Come on and take your best shot, let me see what you got
[…]
Yeah, we know that come tomorrow, none of this will be here
[…]
Hold tight to your anger, don’t fall to your fears
Now when all this steel and these stories, they drift away to rust
And all our youth and beauty, it’s been given to the dust
When the game has been decided and we’re burning down the clock
And all our little victories and glories have turned into parking lots
When your best hopes and desires are scattered through the wind
And hard times come, and hard times go
And hard times come, and hard times go
And hard times come, and hard times go
And hard times come, and hard times go
And hard times come, and hard times go
Yeah just to come again
Bring on your wrecking ball
Es fällt mir schwer nur einzelne Zeilen aus den Lyrics zu zitieren. Dieser Song ist lupenrein, 100% Springsteen, kurz gesagt: Er ist vollständig. Von Springsteens Herkunft aus der Arbeiterschicht, aus dem Sumpf von Jersey, über die kleinen Siege und das bisschen Ruhm, das unter Parkplätzen asphaltiert wird (eine perfekte US-amerikanische Metapher) bis zum sich wiederholenden Hard Time Come, Hard Times Go – nichts davon kann man weglassen. Und über allem eine treibende Melodie, ein Bläsersatz, der wie eine Fanfare zum Angriff klingt und Springsteens kraftvolle Stimme, die Dich auffordert „Don’t fall to your fears – Come on and take your best shot, let me see what you got“. Wer mit diesem Song im Kopf immer noch nicht jede Sekunde Leben auskosten will, hat entweder gar kein‘ Bock auf Springsteen (legitim) oder wird sich von Musik niemals mitreißen lassen (schade).
Mit dieser Stimmung bin ich im Juli nach Wien gefahren, um Springsteen zu sehen. Ich war gespannt. Sein Konzert der 2009er Tour war gut, aber es fehlte der Funke, der überspringen konnte. Seit der Reunion-Tour vor über 10 Jahren habe ich den Funken vermisst. 2012 wurde der Bann gebrochen. Im ausverkauften Happel-Stadion war der so lange vermisste Spirit von der buchstäblich ersten Sekunde da, der Funke sprang über. Drei Stunden und vierzig Minuten. Mit E-Stree-Band, mit Little Steven, mit Nils Lofgren, mit Max Weinberg, mit Roy Bittan, mit zahlreichen weiteren Musikern, aber ohne Clarence Clemons. Natürliche spielte die Band „Tenth Avenue Freeze Out“. Bei der Textzeile „and a big man joined the band“ stoppte die Musik und minutenlange Videoeinspielungen füllten das schweigende Stadion mit einem überlebensgroßen Clarence Clemmons.
Die restlichen drei Stunden und dreißig Minuten waren eine einzige Party. Es war nicht die einzige während dieser Tour. Ich habe viele Berichte von anderen Konzerten gelesen. Aus allen sprach Begeisterung. Selbst in London, als die Sperrstunde nur 3:30 Stunden zuließ und Springsteen, Band und Gastmusiker McCartney der Strom abgedreht wurde. Und auch in Madrid trat ein sichtlich gut gelaunter Boss mit dem Überraschungsgast Southside Johnny auf.
Ist das also der späte Springsteen. Ich hoffe es. Er war nie weg, aber für mich ist 2012 trotzdem sein Comeback-Jahr. Hoffentlich liege ich richtig und der Boss wird mit dem Alter besser und besser und besser, yeah just to come again. Wenn es so kommt, dann ist Wrecking Ball der Anfang der neuen Springsteen-Epoche. Ich bin gespannt. Happy Birthday Bruce!