Billy Bragg, Fabrik, Hamburg, 18.5.2012

Billy Bragg in Hamburg

In den vergangenen zehn Jahren habe ich die Fabrik in Altona nicht so voll gesehen, wie heute Abend. Gefüllt bis zum buchstäblichen letzten (Steh)Platz. Für wen sind alle gekommen, für wen bin ich gekommen? Nur ein Mann mit seiner Gitarre: Billy Bragg.

Kann man über ein Billy Bragg-Konzert berichten, ohne über Politik zu schreiben? Kommt man – gerade in diesen Zeiten – ohne die Worte Kapitalismus und Gewerkschaft aus? Es ist zumindest schwer, wenn man nicht wesentliche Aspekte des Auftritts vernachlässigen möchte. Denn heute Abend war es in Hamburg nicht anders als schon früher: Bragg singt nicht nur, er kämpft, er protestiert.

Für was? Gegen was? Wie er es selbst sagt: Er schreibt Songs nur über Themen, die ihn wütend machen. Politik, Liebe, Fußball … Dass seine Performance trotzdem gute Unterhaltung ist, ist seinem Humor zu verdanken und seinen erstklassigen Songs zu verdanken.

Gut gelaunt stand Bragg heute für mehr als zwei Stunden auf der Bühne. Er war witzig, und er war in Spiel- und Redelaune. Neben einer Handvoll neuer Songs hatte er viele Klassiker im Gepäck. To Have And To Have Not, The Milkman of Human Kindness, Must I paint you a picture, Waiting for the great leap forwards, New England, um nur ein paar zu nennen. Zwischen den Songs teilweise minutenlange Auslassungen über aktuelle Politik, die Wirtschafts-, die Bankenkrise. Bei all dem wandelt er auf einem schmalen Grad, immer in Gefahr, mit seinen Ansichten in die Falle der Simplifizierung zu geraten. Er widersteht dieser Gefahr mit Bravour. Er versteht es, seine Botschaft in kurzen Sätzen ‚rüberzubringen und sie dennoch differenziert zu formulieren.

Und Differenziertheit ist ihm wichtig. Fight Songs lautet der Titel einer der beiden CDs, die an diesem Abend verkauft werden. Der Untertitel: Polemical Tunes in an age of indifference. Billy Bragg will provozieren, will protestieren, ohne zu vereinfachen. Ein schwieriges Unterfangen. Aber es gelingt ihm. Wieviel Inhalt davon beim jubelndem Publikum ankommt, ist schwer zu sagen. Aber die Begeisterung ist da. Begeisterung natürlich für die Musik, aber eingeflochten sind die politischen und gesellschaftlichen Botschaften.

Gäbe es in unseren Kirchen mehr Gospelmusik, wären die Gottesdienste nicht so leer. Und würden unsere Gewerkschaftler singen wie Bragg und ihre Klientel nicht so dogmatisch und undifferenziert bedienen, wie sie es meiner Meinung nach tun, sie hätten mehr Zulauf als sie verkraften könnten (für Arbeitgeberverbände gilt übrigens die analoge Aussage in Bezug auf Dogmatismus, wie ich finde).

Fight Songs ist eine Sammlung früher erschienener Lieder, a compilation of a decade of downloads. Es sind Stücke, die nicht auf das Erscheinen einer CD warten konnten, sondern sofort veröffentlicht werden mussten. Songs zum Zeitgeschehen. Sie behandeln u.a. den Medienskandal in Großbritannien im vergangenen Jahr (Never buy the Sun, 2011), die Bankenkrise (Last flight to Abu Dhabi, 2011), das Erstarken rechtsextremer Parteien in Europa (The big lie, 2007), den Irakkrieg der USA, die britische Beteiligung und die Verstrickung der Industrie (Bush War Blues, 2007, The price of oil, 2002) und den Nahostkonflikt (The lonesome death of Rachel Corrie, 2006).

Es ist nicht einfach, einen anderen Musiker zu finden, der große Themen unserer Zeit so ausgezeichnet in Songtexte übertragen kann. Es ist eine Schande, dass Bragg nicht bekannter ist, dass seine Botschaften nicht mehr Gehör finden. Musikalische Massenware, niveauloser Einheitsbrei, das finden wir in unseren Medien, weil wir es ihnen abkaufen. „Protestongs? Ja, da gibt’s tolle Stücke von Dylan aus den Sechzigern.“ Wer Musik mit Tiefgang will, statt nostalgischer sit-in-Mucke, sollte auf Bragg hören. Da ist einer, der etwas zu sagen hat. Schon seit mehr als dreißig Jahren!

 

This entry was posted on Freitag, Mai 18th, 2012 at 23:22 and is filed under Konzert. You can follow any responses to this entry through the RSS 2.0 feed. Both comments and pings are currently closed.

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