Der Plattenkatalog
Bereits nach wenigen hier veröffentlichten Artikeln habe ich gemerkt, dass ich einige Dinge häufig erwähnen werden. Deshalb fange ich mit diesem Posting an, die Basics, die Axiome, die Grundfesten zu beschreiben. Heute, im ersten Teil, Der Plattenkatalog.
Es begab sich in grauer Vorzeit, lange vor iTunes und iPod, lange vor MP3 und Napster, lange vor dem World Wide Web, dass man Musik auf sogenannten Tonträger speicherte. Quelle solcher Tonträger waren nicht etwa Server, nein, man bekam sie entweder offline in Plattenläden oder – in gewisser Weise online – per Versand. Für alle unter 20: Der Bezug von Musik per Versand läuft im Prinzip ähnlich wie ein Download. In beiden Fällen ist es ein Request-Response-Verfahren. Für den ungeübten Benutzer mag es verwirrend sein, dass es für den Download vom Versand damals keinen Browser gab. Den Request schrieb man manuell auf eine Postkarte oder in einen Brief. Die Response-Zeit betrug zwischen ca einer und drei Wochen. Die Liste der verfügbaren Musik gab es ebenfalls auf einem Offlinemedium, einem Katalog.
In meinem Fall hieß er einfach Der Plattenkatalog. Bestimmt hatte er auch einen Namen, aber den habe ich vergessen. Deshalb nur Der Plattenkatalog. Er wurde von Freund zu Freund weitergegeben, einem Initiationsritus gleich. Der Plattenkatalog war ein kleines, schmuckloses, geheftetes Bündel Papier. Ungefähr im Format A6, aus billigem, dünnen, halb durchscheinendem Papier. Butterbrotpapier, hätte meine Omma gesagt. Der Druckfarben gab es zwei, Rot und Schwarz. Die Schriftgröße lag erinnerungsbeeinflusst bei 6pt.
Jeden Monat das gleiche Ritual: Der neue Plattenkatalog war gekommen und wir hocken in der großen Pause zusammen und blättern durch die winzig bedruckten Seiten. Und da waren sie. All die unbekannten Schätze unserer zukünftigen musikalischen Freuden. Wichtiger noch, die Zutaten für Anerkennung in der Clique und die Insignien unermesslicher Coolness. Mit irgendeiner Billigpressung aus den aktuellen LP-Charts konnte man keine Punkte machen. Aber eine seltene 180g shaped picture-Pressung eines verschollenenen Demo-Tapes, remastered aus den Original-Studiobändern versteht sich, das sicherte soziale Anerkennung für Wochen, im Idealfall sogar Neid über Jahre.
Der Plattenkatalog hatte viele solcher Schätze. Musikalisch häufig genug Schrott, aber seltener Schrott. Ich erinner mich an als „Holzhammerinterpretationen von Shakespeare“ beschriebene „Werke“ von William Shatner oder Leonard Nimoy und an auf Wachszylinder in den 1920ern aufgenommenes Zeug von Aleister Crowley. Wikipedia schreibt heute, Shatners „Version des Beatles-Titels Lucy In The Sky With Diamonds wurde von den Zuschauern des Fernsehsenders Music Choice zum schlechtesten Beatles-Cover aller Zeiten gewählt.“ Glücklicherweise habe ich nichts davon bestellt. Unglücklicherweise habe ich andere Fehlgriffe getätigt, aber das ist eine andere Geschichte. Wenn ich heute bei Amazon nach den alten Versuchungen suche, zuckt immer noch der Mausfinger über dem Bestellen-Button.
Alles in allem hat Der Plattenkatalog aber eine Reihe positiver Impulse gegeben. Sollte einer von Euch noch wissen, wie das Ding hieß, oder gar noch einen herumliegen haben, schickt mir doch bitte den Namen und ggf. ein Foto.
November 30th, -0001 at 00:00
Ach ja, der Plattenkatalog…
Aber gab es denn ‚den‘ Plattenkatalog? Ich erinner mich an jpc (alles immer teuer), Alligator(?, jedenfalls irgendwas mit Krokodil), Soundhouse (ähnlich, nur im Format größer) und natürlich der Klassiker der Klasser: das ‚Merkheft‘ von 2001 (und wieder ein Sonderangebot: Best Blues Recordings von Robert Johnson, in Original nicht restaurierten Versionen auf CD für nur DM 3,95).
Also, was war ‚dein‘ Plattenkatalog? Habe ich damals was verpasst?
Ich bin selber irgendwann davon abgekommen, aus solchen und ähnlichen Katalogen zu bestellen. Irgendwie war es immer gleich: man kreuzt erst mal viel beim Lesen an, schreibt dann alles raus, überdenkt das begrenzte Budget, und kauft dann vielleicht eine Platte zum Normalpreis, noch eine mittelteure und drei günstige. Wenn das Paket kam, war es erst aufregend. Die teure Platte hat man gleich gehört, die mittelteure irgendwann später und die billigen oft nur noch angespielt, bevor sie dann im LP/CD-Regal verschwanden…
Wenn ich heute in diese Regale bei mir schauen, dann sind da viele eher obskure, aber nette Sachen drin (z.B. NRBQ – Wild Weekend), aber auch viele Platten, die ich nie richtig gehört habe und wenn, dann sind sie einfach nur mittelmäßig (so habe ich fast alle alten Tom Petty-Platten, aber braucht man die?).
Jetzt kauf und höre ich anders: lieber weniger und dafür ausgesuchter. Und es ist nicht aus dem Plattenkatalog, sondern meist vom großen Internet-Versandhändler…nn1nn1nn1nn1