Wie Bruce Molsky für zehn Minuten mein Leben veränderte
Los geht’s. Site ist startklar, CMS aufgesetzt. Und jetzt? Jetzt muss ich etwas schreiben. Über irgendeine meiner Platten. Aber welche? Ist ein bisschen wie das Klischee des Schriftstellers, der vor dem weißen Blatt Papier seine Schreibblockade bekommt.
Welches Album hat es verdient, das erste in diesem niegelnagelneuen Blog zu werden? Die Fragestellung wäre „High Fidelity“ würdig. Das Buch habe ich nicht gelesen, nur den Film
gesehen. Deshalb sehe ich John Cusack vor mir. Die Szene als Rob seine Platten sortiert. Dick kommt rein und versucht herauszufinden, welche Reihenfolge Rob wählt. Nicht alphabetisch, nicht nach Genre, nein, autobiographisch!
Soll ich mit meiner ersten Platte beginnen? Besser nicht. Einerseits zu langweilig, andererseits zu peinlich (dafür ist später Zeit genug). Soll ich mit dem besten Album aller Zeiten beginnen? Aber warum mein Pulver zu früh verschießen? Nein, das geht auch nicht; nimmt die Spannung aus der ganzen Sache. Man muss nur mal genau zuhören, wie es Rob erklärt als er für Caroline Fortis ein Tape zusammenstellt.
Ich sehe nur einen Weg: Das erste Album für den ersten Artikel auf dieser Site muss eins sein, das als Platte unwichtig ist. Unwichtig, aber mit einer Geschichte dahinter. Für diesen Zweck fällt mir das richtige Album sofort ein: Bruce Molsky and Big Hoedown mit ihrem gleichnamigen, 1997 bei Rounder Records erschienenen Album.
Wie bin ich zu Big Hoedown gekommen? Als ich im Ruhrgebiet lebte bin ich gern zu Konzerten in den Bahnhof Langendreer gegangen. Das gedruckte Programm hab ich regelmäßig nach interessanten Bands durchgesehen. Eines Monats sollten Bruce Molsky and Big Hoedown auftreten. Ich hatte nie von ihnen gehört, aber wer auch immer das Programmheft geschrieben hat, verstand sein Handwerk. Von Folk-angehauchtem Stil war die Rede und von Independent. Der Text weckte meine Neugier und unbekannte Bands live auf der Bühne zu sehen, ist immer eine gute Idee.
Also bin ich am Abend des Konzerts zum Bahnhof Langendreer gefahren. Eine Karte im Vorverkauf zu sichern, schien mir unnötig. Big Hoedown müsste unbekannt genug sein, um es an der Abendkasse zu probieren. Als ich deutlich zu spät ankam, wurde ich trotzdem skeptisch und fragte an der Kasse vorsichtig, ob sie noch eine Karte hätten. Im ersten Moment konnte ich den irritierten Blick des Ticketverkäufers nicht deuten. Mit der Karte in und dem obligatorischen Stempel auf der Hand ging ich in die Halle. Sofort war klar, dass meine Frage nach einem womöglich ausverkauften Konzert für den Ticketverkäufer keinen Sinn ergab.
Die ohnehin schon kleine Fläche des alten Bahnhofs war für Big Hoedown noch einmal verringert worden. Mit Tischen! Ich glaube es waren sechs. Tische und Stühle. An drei Tischen saßen Zuhörer. An der Bar holte ich mir etwas zu trinken und suchte mir einen der freien Plätze. An zwei Tischen saßen kleine Gruppen, am Tisch rechts außen saß eine Frau allein. Ich war es nicht gewöhnt bei einem Konzert zu sitzen. Aber angesichts der Musik, die ich bis zu diesem Zeitpunkt gehört hatte, war es wohl besser, zu sitzen. Akustische Gitarre, Geige (Fiddle) und Banjo. Die Instrumentierung sagt alles. Holzfällermusik aus den Appalachen, oder so. Nagelt mich nicht drauf fest. Das ist rund 15 Jahre her. Nicht ganz meine Musik, aber gut, „unbekannte Bands live auf der Bühne zu sehen, ist immer eine gute Idee“ hab ich gerade noch behauptet. Was sollte ich auch sonst machen. Eintritt war bezahlt, das Getränk auch. Also klatschte ich artig nach jedem Song und fragte mich, ob Square Dance wohl was für mich sei.
Die Musik zog mich nicht so stark in ihren Bann, dass ich mich nicht noch umsehen konnte. Die Frau am Tisch rechts außen, hatte ich ja schon beim Betreten der Halle bemerkt. Sehr hübsch und allein, das sprach für sie. Ihr Musikgeschmack, nun ja, darüber müsste man nochmal reden. Aber das beste: Sie erwiderte meine Blicke. Wow! Wer hätte das gedacht. Bei Big Hoedown geht was. Hätt‘ ich das früher gewusst! Da geht man jahrelang zu coolen Bands, lächelt was das Zeug hält, aber der Erfolg blieb bescheiden. Und dann setzt man sich einmal gemütlich in ein Holzfällerkonzert und die Kontaktaufnahme geht schneller als die Band spielen kann. Meine Begeisterung für Banjomusik erklomm nicht geahnte Höhen und ich begann, mir den weiteren Verlauf des Abends auszumalen. Offensichtlich waren wir seelenverwandt. Bereits nach zwei Songs wusste ich wie sie tickt, und unsere unsere Blicke trafen sich vorhersagbar immer in den letzten zwei Takten eines jeden Liedes. Das schien ein Selbstläufer zu werden. Vorausgesetzt ich würde ich den Mut aufbringen, sie anzusprechen. Doch wozu Hektik an den Tag legen? Für’s erste war meine Taktik klar: Der Band applaudieren und der schönen Frau zulächeln. Das war der Plan für Song Nummer drei. Aber wie weiter?
Zu ihr ‚rübergehen und fragen ob noch ein Platz frei sei? Langweilig. An der Bar zwei Bier kaufen und ihr eins anbieten. Auch blöd, ich trinke kein Bier. Aber irgendwas musste ich doch tun, oder?
Nein. Nicht, wenn sie die Sache in die Hand nähme. Am Ende vom dritten Song setzte ich meinen Plan um. Lächeln und Klatschen. Und was macht sie? Sie steht auf und kommt auf mich zu. „Bruce Molsky, du bist mein Gott!“ Ich würde den Rest meines Lebens Banjo hören, Bäume fällen, Holz hacken und Scheite schichten!
Sie kommt zu mir ‚rüber, hockt sich neben meinen Stuhl und spricht mich an. „Darf ich mich setzen?“ – „Willst du’n Bier?“ – „Geh’n wir zu mir?“ – Phantasie kann soviel schneller als Realität sein. Nichts von dem, was ich mir in meinem Kopf ausmalte, sagte sie wirklich. Statt dessen sagte sie ungefähr: „Ich arbeite für den WDR. Wir nehmen das Konzert für die Matinee auf WDR3 am nächsten Sonntag auf. Da so wenige Zuhörer gekommen sind, wollen wir im Studio den Applaus nachträglich ‚reinmischen. Dabei stören einzelne Applaudierende. Könntest Du mit Deinem Applaus bitte warten, bis der letzte Takt jedes Songs verklungen ist?“. Shit. Sie hatte die Bitte schon vor dem Konzert an alle Zuhörer gerichtet, was ich aufgrund meiner Verspätung nicht mitbekommen hatte. Shit.
Es wurde leider nichts aus der zwischenzeitlichen Abendplanung. Das Konzert habe ich mir natürlich bis zum Ende angehört. Aber Bruce Molsky and Big Hoedown haben nie wieder an die Begeisterung anknüpfen können, die die ersten drei Songs dieses Konzerts bei mir ausgelöst haben. Zum Dank habe ich mir ihre CD gekauft und an Ort und Stelle signieren lassen. Vielleicht sollte ich Bruce mal eine Mail schicken und fragen, in welcher Auflagenhöhe das Album erschienen ist. Möglicherweise bin ich der einzige Besitzer einer signierten Bruce Molsky and Big Hoedown-CD aus dem Bahnhof Langendreer. Mein Interesse für die Musik hat übrigens nicht bis zum folgenden Sonntag gehalten. Die Matinee, für die die schöne Frau vom WDR3 aufgenommen hat, habe ich mir nicht angehört.